»Das wirkliche Verbrechen beginnt immer erst mit der Gerichtsverhandlung«
Karl Kraus [1]
I. Vom Anfang
Im Sommer 1978 steht die fällige Fußballweltmeisterschaft in Argentinen vor der Tür.
Diejenigen, die später, anläßlich der Olympiade im Jahre 1980, in Anbetracht von Kabul [2] der Propaganda nicht genug tun können, um Menschenrechte vor Sport zu stellen, kennen damals keine Folter. Nur noch Fußball, der angeblich »versöhnt«, sei es auch mit Elektroschocks und Papageienschaukel. Zu dieser Zeit, am 23. Juni 1978, morgens gegen 10 Uhr, geht ein Mann auf seine Studentenbude in einem Heidelberger Hinterhaus. Er hat eine Fahrkarte nach München in seiner Tasche und auch einige nicht ganz echte Utensilien, mit deren Hilfe er in die Gestalt eines Postboten schlüpfen will. In der Bayrischen Landeshauptstadt will er seine »Post« abgeben: einen Sprengsatz an die Adresse des argentinischen Generalkonsulats.
Eine geringe Menge Sprengstoff soll ausreichen, um ein paar Steine aus der Mauer des Schweigens zu reißen. Er hat sich sorgfältig zuvor vergewissert, daß Menschen nicht zu Schaden kommen können. Aus diesem Grunde auch probiert er vorher - noch in Heidelberg - die Elektronik seines Sprenggerätes durch: das vorzeitig unter seinen Händen explodiert!
Hermann Feiling ist nicht auf der Stelle tot. Er überlebt den schrecklichen Unfall. Aber er ist blind danach und seine beiden Beine werden bis ins obere Drittel amputiert. Sein Körper ist von Brandwunden bedeckt. Unmittelbar danach mußten ihm beide Augen entfernt werden. Ein Schock von kaum vorstellbarer Dimension zeichnete im Übrigen seinen Zustand aus. In der Nacht nach seinen schweren Operationen wurden ihm vier Ampullen des starken Schmerzmittels Dipidolor gespritzt.
»Dipidolor ist ein morphinhaltiges Schmerzmittel, das nur bei besonders starken Schmerzen verordnet wird [...] Bei einigen Patienten stellt sich eine Euphorie ein, d.h. ein unrealistisches Gefühl des Wohlbefindens, außerdem Gefühle der Geborgenheit. Es erleichtert gedankliche Assoziationen, eine •positive Grundeinstellung, Gedankenflucht...« (Pharmazeutisches Lexikon)
Noch drei Tage nach der vorzeitigen Explosion und Operation erklärt das Landeskriminlamt (LKA) Stuttgart, Feiling befinde sich in »Lebensgefahr«, am selben Tag erklärt der behandelnde Arzt den Eltern dasselbe. (Quelle: Heidelberger Rundschau 26.6.78 & RA. Bayer)
Von daher war es eine bemerkenswerte humanitäre Leistung des zuständigen LKAs, bereits am Morgen nach der Operation in Hermann eine voll vernehmungsfähige Person auszumalen. Dies mit Hilfe eines Arztes namens Dressler, der für die Dauer der Vernehmungen nicht einmal ein zeitliches Limit setzte, selber aber in der Regel nur um die fünf Minuten bei seinem Patienten aushielt, wofür dann die anwesenden Beamten in medizinischer Hilfsfunktion beim Umbetten und ähnlichen Versorgungsmaßnahmen selbsttätig zu Hand gingen.
Insgesamt war Hermann Feiling viereinhalb Monate in dieser Lage der absoluten Hilflosigkeit, der Schmerzen, der eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeit, der säuglingshaften Abhängigkeit, ferngehalten von allen Freunden, ferngehalten von jedem Anwalt seiner Wahl. Während die »Vernehmungen« munter liefen. Eingeleitet von einem Staatsanwalt, einem gewissen Wechsung, den Feiling für einen Rechtsanwalt hielt - und dies alles unter der rechtsstaatlich superben Bedingung, daß zu keiner Zeit ein Haftbefehl gegen ihn verkündet worden war.
II. Über die Produktion von Aussagen
»Ich fühle mich wie eine lächerliche Masse.«
(H.F.:Tonbandkassette)
Hermann Feiling wird am Tag nach der Explosion und der Operation zum ersten Mal »angehört«, ein Begriff, den es in der deutschen Strafprozeßordnung nicht gibt.
Die Ergebnisse dieser »Anhörung« werden von den Ermittlungsorganen als »Aussagen« bewertet.
Aufgrund schon der ersten angeblichen Aussage wird seine Verlobte verhaftet.
Hermann Feiling, der sich heute an beinahe nichts mehr erinnern kann, schildert Fragmente seiner damaligen Wahrnehmung so:
»In der ersten Zeit hätte er überhaupt keinen Tag- und Nachtrhytmus gehabt. Sie hätten ihm jemand in den Raum gesetzt. Er habe nie geschlafen. Der andre sei immer rumgelatscht und hätte Stories erzählt, er sei Jäger. - Er könne sich bei seiner ersten Vernehmung auch nicht an (rechtliche) Belehrungen erinnern, auch nicht an die Belehrung, daß er sich eines Rechtsanwaltes bedienen könne.«
Letzterer hätte ihm wohl, wäre es ein Vertrauensanwalt gewesen, als erstes gesagt, daß er gegenüber seiner Verlobten ein gesetzlich verbrieftes Recht der Aussageverweigerung hatte. Die Barbarei und Perversion dieses Verfahrens, einen vernehmungsunfähigen Menschen zu »Aussagen« zu pressen, wird auch in den folgenden Angaben Hermanns auf besagten Kassetten deutlich:
»Was mich am meisten mitnimmt, im Moment, ist [...], daß da scheinbar Aussagen existieren, die von mir stammen. Diese Aussagen stammen aus einer Situation kurz nach der Operation. Ich kann mich weder an sie erinnern, noch kann ich sagen, daß sie so, wie sie mir dann später berichtet wurden, daß sie so der Wahrheit voll entsprechen. Ich hätte diese Aussagen jedenfalls nie gemacht, wenn ich einen klaren Kopf gehabt hätte.«
»Ich war also mehr in so einem Zustand, wo ich eigentlich gar nicht wußte, wer um mich war und das einzige, was ich wollte, darin bestand, nicht verlassen zu werden. Dafür hab ich dann - also wie gesagt - da dann nicht allein zu sein und zusätzlich eben nicht zu wissen, was eigentlich los ist und wo man sich befindet und warum es dunkel ist - das kriegt man erstmal gar nicht so genau mit - eine Situationskontrolle erstmal zu entwickeln, da braucht man erstmal Zeit!«
Später teilte er dann, illegal, seinen Freunden mit:
»Ich bitte [...] zu verfolgen, was mit mir geschieht. Wo ich hingebracht werde und so. [...] Ich bin voll unter den Fittichen. Die haben also nur ein paar Konzessionen gemacht, daß ich also diese Maßnahmen da behalte, also die Krankenhaustherapie für die prothetische Versorgung. [...] Nur um das möglich zu machen, haben die es eben gemacht, mir also ihren Haftbefehl zu eröffnen.«
Da gegen Hermann Feiling aber niemals formell ein Haftbefehl verkündet wurde, der ja haftunfähig war, muß jemand ihn bewußt mißinformiert (also erpreßt) haben in der Absicht: entweder Du unterwirfst Dich uns, oder wir vollstrecken den Haftbefehl und dann ist die Chance auf therapeutische Maßnahmen passé, samt dem Erlernen der Blindenschrift.
Und in seiner letzten Mitteilung aus einer Isolierstation des Modells Deutschland heißt es:
»Ich fühl' mich tatsächlich ein wenig entmündigt; aber man hat auch eine Situation geschaffen, in der ich mich eigentlich nicht traue, traute, irgendetwas selbst noch zu wollen. [...] Es ist für mich unmöglich irgendetwas ganz anderes zu sein. Dazu will man mich bringen, glaube ich jedenfalls, daß man da alle Register zieht, ich geh daran nicht - jetzt nicht - vollends kaputt, weil ich festgestellt habe, daß ich meine politischen Gedanken, meine persönliche Identität vielleicht wohl mal wieder finde.«
Natürlich ist diese von Hermann Feiling geschilderte Vergewaltigung niemals eine, die von verbrecherischen Schergen arrangiert wurde, sondern es handelte sich um »Hilfe«, pflegerische, versteht sich, um »Hilfe«, die erst recht zum Triumph beim Fabrizieren der »Aussagen« gelangt.
Zu jenen, die Hermann Feiling im Krankenhaus »behiflich« sind, ihm Sachen reichen, oder wohlmöglich noch die Orange schälen, gehören in erster Linie Polizisten. Feiling wußte das nicht, konnte also auch nicht ermessen, wer in seiner nächsten Umgebung etwa der Schweigepflicht unterliegt, wenn er etwas sagt.
In einer Situation, wo er unter dem ungeheuren Druck der Ereignisse sprechen will und muß, sich selbst hören, d.h. erleben will, der unter Eindrücken von Selbstentfremdung und gestörter Körperwahrnehmung leidet, der kämpft, der sich an seine Umgebung klammert, seine Gequältheit herausbricht - ist Sprache seine einzige Kommunikationsform. Die »hilfreichen« Polizisten »hören geduldig an« und halten geduldig »vor«: Grüne Farbe des Autos oder rote? Solange, bis er »ja« sagt.
In den 1.300 Seiten steht nichts darüber, wie das gegangen ist, sondern man liest die Summe der freigeschöpften facts. Doch ganz ist die Folter, die hier geschah, nicht spurlos getilgt (HR 12/78):
»Der Arzt gab zu Protokoll, daß Feiling während der Vernehmungen zwar •medizinisch, aber nicht •juristisch vernehmungsfähig gewesen sei.«
Was stört aber einen deutschen Polizisten namens Berberich, Mitglied eines Heidelberger Elternbeirates, Gesetz & Juristerei, wenn nur noch ein Funke Leben in einem steckt?
»Während der Vernehmungen« so heißt es, »war Feiling so erregt, daß ihm zusätzlich Valium zur Beruhigung gespritzt werden mußte.«
III. Dossier über ein Verhör in Deutschland
Der Polizeiobermeister i.K. (POM) Schäfer führt das Protokoll, das er zu verantworten hat. Ein Staatsanwalt, ein gewisser Wechsung, gehört ebenfalls zur Szene, der den dauernd bewußtlosen Feiling nicht über seine Rechte belehrt, den Feiling mit seinem Rechtsanwalt verwechselt. Vernommen wird nicht, es wird »angehört«.
Ein POM wie der Schäfer ist in der Hierarchie ein kleiner Beamte, der weiter kommen will und stets darauf zu achten hat, daß er als Protokollführer nicht unterschreibt, was andere ihm - wohlmöglich rechtswidrig - einbrocken.
Dieser Polizeiobermeister formuliert daher mit evidenter Zurückhaltung eine in sich nicht einmal logische Charakterisierung dieses initialen Gesprächs:
»Ich kann das geführte Gespräch nur sinngemäß widergeben, da ich einige Male das Zimmer verlassen habe und da manchmal Feiling, weil er sehr leise sprach, sehr schlecht zu verstehen war.«
Wir verstehen gut: Jemand hat da womöglich einen Drang verspürt, gelegentlich den Raum zu verlassen, damit er später sagen kann, er hat nicht alles mitbekommen. Aber auch dann, wenn er anwesend ist, kann er nur »sinngemäß« reproduzieren, denn der frisch Operierte war kaum zu verstehen.
Derart aber das Entree auf die nun folgenden 1.300 Seiten sogenannten »Aussagen«, in dessen Schlußbemerkung der vorsichtige Schäfer sich noch einmal durch Hinweis auf die Verantwortung des höherrangigen Beamten Seitz absichert. Ihm war nicht wohl bei der ganzen Geschichte.
Da es verständlicherweise in der Fortsetzung der Inquisition erst recht Probleme mit den »Sinnen« gibt, mit dem elendig befindlichen »Verhörsubjekt«, den permanenten An- und Abwesenheiten, muß die eine 1.300 Seiten umfassende »Aussage« Dokumentation gleichfalls von eigener Art sein:
Ab Seite 0006 wird zwar ein Tonband in die Sache eingeführt, dessen Objektivität aber immer dann abgeschaltet werden muß, wenn die Schöpfungsfreude der Beamten nach sinngemäßer »Zusammenfassung« schreit. In der Regel dann - wir kommen noch darauf - wenn man tiefer ins Gespräch kommt.
Am 28.6. eröffneten die Beamten Berberich und Raisch (S. 0049) ein stundenlanges Marathonverhör mit dem schwerkranken Feiling, dessen bereitwilligem Arzt keinerlei zeitliche Begrenzung in den Sinn kommt. Es hat seinen ersten Höhepunkt in der Aufforderung, Feiling möchte doch die Namen ihm bekannter Leute nennen, was dieser offenbar nicht will oder kann, weswegen man ihn kennerisch auf die Belastung durch seinen Körperschaden hinweist, der auch andere ereilen möchte:
»F. macht eine längere Pause und atmet sehr stark.«
Hier macht es gar nichts (S. 0056), daß der Betroffene immer schwer atmet: Die heutige Humanität verfügt schließlich über Valium.
Daß er am Ende überhaupt nicht mehr zu verstehen ist, was macht das, solange nur das Rollenspiel eben so funktioniert, daß ein »Das weiß ich nicht mehr so genau« den Beamten strategisch unverständlich bleibt, wo doch das folgende, auf apodiktische Aufforderungen geflüsterte »Ja« einen protokollarischen Sieg ergibt.
Um genau zu sein: Der offenbar kaum noch artikulationsfähige Mensch flüstert sein »ja« nicht aufgrund eigener Erinnerung, denn er »kann sich nicht mehr genau erinnern«, sondern zum Vorhalt der Verhörer.
Auf diese Weise wurde der spätere Tatvorwurf eines Anschlags auf die AKW-Firma Klein, Schanzlin & Becker »erhärtet«.
Insofern ist es auch bedeutungslos, daß dieser flüsternde, schwer atmende, total abhängige, von Valium gestützte Mensch in Bezug auf Personenfragen permanent gravierende Widersprüche produziert - mal ist etwas rot gewesen, mal was braun - weil jeweils einen Tag darauf die Befrager die Widersprüche schon glätten.
Mag denn auch (S. 0016 & 0003) die eine später hochbelastete Person deutlich daran zu erkennen sein, daß sie signifikant Hessisch babbelt, wenig später verwandelt sich das mühelos in reines Hochdeutsch.
Überhaupt ist die Fähigkeit deutscher Beamten, die geflüsterten »Aussagen« geschockter Menschen, die sich in Lebensgefahr befinden, »sinnvoll« zu transformieren um so ausgeprägter, je malader deren Zustand ist.
Für einen Linguisten dürfte bei der Durchsicht der angeblichen Feiling-Aussagen unschwer feststellbar sein, daß der Betroffene wenige Stunden nach der Operation auf wunderbare Weise stundenlang in reine Polizeidiktion verfällt, nämlich wie aus der Pistole geschossen kurz und knapp (auf Vorhalt versteht sich) erfragte Maße sogar in Milimeterdifferenzen angeben kann, während derselbe in späteren Verhören, eben wieder bei sich selber, in seiner eigenen, etwas langwierigen Sprache mit vielen ähs und kompliziertem Satzbau antwortet.
Damit ist aber nun bewiesen, daß der Zustand des Hermann Feiling während der Vernehmung anfangs nicht ungünstig, sondern eben günstig war.
Mag es auch kreuz und quer gehen und manchmal überhaupt nicht mehr: »Medizinisch« ist der Deliquent »aussagefähig« und passieren kann nichts, denn er hängt am Tropf und der Arzt erscheint jeweils für die Standarddurchschnittszeit deutscher Mediziner: Fünf Minuten.
Doch wenn in der Folge immer öfter (S. 0063) das hier vorliegende menschliche Vernehmungsmaterial offenbar nicht ganz bei Sinnen ist, muß selbst im stromlinienförmigen Protokoll mal danach gefragt werden, ob »Herr F. der Vernehmung überhaupt noch folgen« kann.
Eine sehr verständliche Frage, die der Betroffene aber zu deuten offensichtlich nicht mehr imstande ist, weswegen dazu nur weiter zu fragen ist:
»Haben Sie verstanden?« Da aber die »Sinne« bei den POMs und KHKs Berberich, Raisch oder Schäfer unschwer in der Lage sind, anderweitige »Sinnausfälle« selber sinnvoll zu überbrücken, mögen sie auch persönlich draußen vor der Tür gewesen sein, so ist bei einiger Beharrlichkeit selbst dem Halbtoten auf die Frage seiner geistigen Anwesenheit, deren Rezeption durch das Opfer der Protokollant im übrigen selber mißtraut, am Ende ein preußisch-knappes »Jawohl« zu entlocken.
Tags drauf ist der 29.6. und weil es wiederum um die »Sinne« und deren Reproduktionsfähigkeit geht, entsteht am besten wieder ein »zusammenfassender Aktenvermerk«: »Herr F. wolle seine Gedanken direkt (als ob es bisher indirekt zugegangen sei) einem Beamten mitteilen, weil er sonst die Gedankengänge evtl. wieder vergessen würde.«
Was logisch für einen Verzicht auf ein mitlaufendes Tonband spricht, dem bekanntlich hervorragenden Mittel gegen jede Art von Vergeßlichkeit, Unklarheit und Widersprüchen. Sicherer ist aber - etwa später vor Gericht - sich ungehemmt auf die eigene freischöpferische Sinnlichkeit zu stützen. Zu diesem Zeitpunkt des Kampfes gegen Vergeßlichkeit waren bereits an die sechs Leute erfolgreich belastet.
Am 30.6. tauchen endlich wieder die vom Wiesbadener LKA auf, die in wahrscheinlicher Konkurrenz mit den Stuttgartern unbedingt selber zu etwas kommen müssen - weswegen es jetzt erst so richtig intim wird (S. 0079):
»Frage: Waren an dieser Straße Parkflächen eingerichtet?
Antwort: Also keine besonderen, da konnte man natürlich am Straßenrand rechts parken.[...]
Bulle: Herr Feiling, lassen sie bitte den Arm etwas ruhiger liegen, da ist die Infusion ...(unverständlich).
Feiling: Was ist denn los?
Bulle: Nee. Nee, ist nur vom Verbandsteil etwas losgelöst. Das muß erst gemacht werden. Da hat sich - glaub ich - die Infusion dort unter dem Pflasterstreifen etwas gelöst.
Bulle: Oh, das ist okay, die hängt da so rum.«
Woraufhin man sich erneut einer Frankfurter Einbahnstraße widmet, welcher der Hermann über Stunden nicht so recht folgen kann. Ergebnislos wird die Befragung mittags abgebrochen.
Kein Wunder - von daher - daß dieses Verhör nachmittags wieder zu sich selber und die Wiesbadener zu einigen Erfolgen kommen:
»Die Vernehmung wurde nicht auf Tonband aufgezeichnet, die Aussage lediglich dem Sinn nach in Stichworten handschriftlich notiert.«
Es mußte endlich wieder »Sinn« in die Sache kommen, denn auf der Sitzung zuvor hatte überhaupt nichts geklappt, waren die Rauchgewohnheiten verdächtiger Personen mal so und mal so, waren Haut- und Haarfarben kunterbunt verschieden, von dem ganzen Durcheinander sich abwechselnder anthropometrischer Merkmale ganz zu schweigen.
Da das mit dem auszuschaltenden Tonband doch nicht ganz so koscher wirken möchte und weil es lausige Rechtsanwälte gibt, die sich sowas vor Gericht peinlich erklären lassen möchten, erlaubt sich die Sinnesschärfe des KHM Berberich den Versuch eines Persilscheins in der Form einer überaus logischen Schlußbemerkung (S. 0105):
»Das oben genannte Gespräch wurde auf ausdrücklichen Wunsch und unter Berücksichtigung des Gesundheitszustandes von Herrn Feiling nicht auf Tonband aufgenommen«, dessen »Gesundheitszustand« bekanntlich darunter litt, daß er überhaupt verhört wurde, nicht aber unter einem geräuschlos mitlaufenden Tonband.
Wobei der danach noch folgende Hinweis »Es erfolgte auch keine (handschriftliche) Protokollierung« - logisch nur noch Rückschlüsse auf die lädierte mentale Lage der Beamten zuläßt, die offenbar nicht schreiben konnten.
Am 2.7.78 (S. 0138) haben sich jedoch die Verhörer sinnlich und handgelenkmäßig soweit erholt, daß die »Aussage« des Tages wenigstens wieder »sinngemäß und handschriftlich« protokolliert werden kann, weil man erkannt haben dürfte, daß die Methode des Ausschaltens des Tonbands und des Anschaltens der »Sinngemäßheit« einen rascher vorwärts brachte. Woraufhin wir auf der Höhe der Seite 0148 plötzlich die bisher ganz ungewöhnliche Belehrung erfahren, nämlich am 5.7.78:
»Sie wissen, daß Sie vor der Polizei keine Angaben zu machen brauchen, daß Sie einen Verteidiger befragen können.«
Glücklicherweise war der auch inzwischen aufgetrieben, ein Herr aus Ostfriesland, der den konservativen Eltern nahesteht, und der sich auch sonst insofern als ideal erweist, da er praktisch nur nominell in Erscheinung tritt und im übrigen mühelos in der Lage ist, den Hermann nicht auf sein gesetzlich verbrieftes Recht auf Aussageverweigerung gegenüber seiner Verlobten hinzuweisen und auch darüber nichts verlauten läßt, daß Feiling haftunfähig ist.
Er betreut weiter seine Kanzlei in Emden und weiß seinen Mandanten in besten Händen, dem er rät »nur alles zu sagen«, und zwar in diesen Händen (S. 0182):
»Frage: Berlin? Wer beteiligt sich überhaupt bei der Zusammensetzung einer solchen Zeitung? - Herr Feiling, ich würde nicht so, den Mund, weil da so eine leichte Kruste ist.«
Wenn man nämlich schon sieht, daß jemand den Mund eigentlich gar nicht aufmachen kann, dann sollte man ihn weiter fragen. Und das geht lohnend bei der Herstellung von 1.300 systematischen Seiten nur über »sinngemäße Zusammenfassung«. Schließlich schlägt ja auch der auf den Tod Verwundete nach stundenlangem Befragen andauernd aus dem »sinnvollen« Rahmen (S. 0239):
»Feiling: Er wurde geschildert als jemand dort, also ich hätt', ich hab mir das jetzt nicht weiter überlegt, aber ich dachte, das einfach schon deswegen, weil die ja äh, also ich mein, weil die auch zusammen, äh, dann wenn sie versuchen zusammen 'n Auto aufzumachen oder so, daß, ich denk dann, ich denk dann, daß es irgendein Ziel hatte oder so, nee.«
Das geht natürlich so nicht. Wie soll man darauf einen Prozeß aufbauen und Leute verurteilen? Weswegen uns die Methode dieser Art der Herstellung von Beweismaterial nicht nur den »Sinnen« sondern auch den Absichten der Frager nach gemäß erscheint.
In den Monaten August bis Oktober 78 bespricht Hermann Feiling illegal Kassetten, die er ohne Wissen seiner Bewacher nach draußen lanciert. Er verlangt seinen namentlich genannten Anwalt und erklärt im übrigen, er blicke nicht durch, was eigentlich passiert sei:
»Ich hätte jedenfalls diese Aussagen nie gemacht, wenn ich einen klaren Kopf gehabt hätte. Ich möchte also diese Aussagen zurücknehmen.«
Diese eindeutige, unmißverständliche Willensbekundung eines Menschen, der endlich seiner Sinne wieder mächtig ist, wird dann natürlich souverän im wenig später zu Ende gehenden Prozeß gegen Gerd Albartus nicht verwertet, sondern unter Hinweis auf den zur Akte geronnenen Aussageunsinn erledigt.
Dies, obwohl der Düsseldorfer Senat die Tatsache der Schmuggelkassette und ihren Inhalt als »wahr« unterstellt (Albartus-Anklage). Er erklärt ihren Inhalt indessen »zwanglos« als das bloße Bemühen, andere wieder zu entlasten, weil die »Bedeutung seiner Aussage« ihm klar geworden sei: die ihm eben, was wir immer schon sagten, vorher nicht klar gewesen sein kann.
Zum bevorstehenden Prozeß gegen Hermann Feiling, Sybille Straub & Silvia Herzinger vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main
»Das wirkliche Verbrechen beginnt immer erst mit der Gerichtsverhandlung«. (Karl Kraus)
Für das, was mit Hermann Feiling (und anderen) geschah, hat der Staat heute einen »Strafanspruch«. Den wird in Kürze das OLG Frankfurt beurteilen; die Termine hierfür werden in allernächster Zeit mitgeteilt - wenn es nicht gelingt, die Obszönität und Niedertracht eines solchen Prozesses generell zu verhindern!
Nach der vorliegenden Anklageschrift beabsichtigt die Staatsanwaltschaft, ein gerichtliches Verfahren gegen Hermann, Sybille und Sylvia durchzusetzen. Gegen alle drei Leute existiert nicht der geringste Beweis, außer den angeblichen »Aussagen« Feilings, die
- nach §136 der StPO unverwertbar sind, weil Hermann sich in lebensgefährlicher Situation befand, also »vernehmungsunfähig« war,
- die auch in sich - nimmt man sie einmal ernst - verworren, unklar und äußerst widersprüchlich sind,
- die von Hermann Feiling selbst - noch während seines polizeilichen »Spezialgewahrsams« - auf herausgeschmuggelten Tonbandkasetten nachdrücklich dementiert wurden,
- und bei denen eindrucksvoll belegt werden kann, wie sie unter Anwendung von »Methoden« wie der Verabreichung psychotroper Substanzen, der Androhung eines Haftbefehls (obwohl haftunfähig), unter Androhung der Verweigerung therapeutischer Maßnahmen, unter Verzicht auf notwendige rechtliche Belehrungen und im übrigen unter allem nur eben erdenklichem Druck und der Erpressung in hilfloser Lage zustandekamen.
Aufgrund dieser »Ergebnisse« kam Sybille in die Stammheimer Isolationshaft. Sylvia nach Preungesheim. Sybille für neun Monate. Die Aufhebung der Isolation wurde ihr für den Fall »versprochen«, daß sie selbst »Aussagen« macht.
Offenbar war man von der Stimmigkeit der »Aussagen« ihres Verlobten Hermann nicht so überzeugt! Sybille soll jetzt wohl wieder in den Knast, obwohl dies zusätzlich für Hermann Feiling den katastrophalen Verlust seiner lebenswichtigen Bezugs- und Pflegeperson bedeuten würde.
Im Falle Silvia Herzinger genügte es als Voraussetzung für Knast & Verfolgung, daß Hermann einmal von einer »Friederike« gesprochen habe, seiner »Kontaktperson«, die in einem Anwaltsbüro gearbeitet hätte, deren Eltern nicht arm seien, die in Frankfurt einmal eine Hausdurchsuchung erlebt hätte - was bekanntlich in Frankfurt auf dutzende Linke zutrifft. Bei alledem geht es der im Hintergrund federführenden Bundesanwaltschaft nicht allein um die Verurteilung und Bestrafung dieser drei Menschen - sondern man zielt mit dem Verfahren auch auf höhere Gründe.
Es geht um die gerichtliche Absegnung einer verfolgungsstrategisch sicheren Behandlung der »Revolutionären Zellen«. Wobei aufgrund der Feilingschen 1.300 Seiten zu beschließen ist, daß es sich bei den »RZ« nicht um autonome Gruppen handelt, die selbständig handeln, sondern um zentral inspirierte und organisierte Einheiten, was auf eine wesentliche rechtliche & polizeiliche Erleichterung ihrer Verfolgung, Behandlung und natürlich Verurteilung hinausliefe. Derart, daß zukünftig jeder, der recht spontan einen Hausmacher-Brandsatz gegen beispielsweise ein bolivianisches Konsulat pfeffert, als abhängiger und diktierter Teil einer »großorganisierten Kriminellen Vereinigung« anzusehen ist. Der also keinen eigenen Entschluß gefaßt hat, sondern den anderer nur vollzieht.
Schon unmittelbar nach dem Unglück Hermann Feilings übernahm das BKA offiziell die weitere Verfolgung des »Komplex RZ«, die vorher in den Bereich der regionalen Landeskriminalämter fiel. Schließlich sind durch Feilings »Aussagen« weitere Menschen belastet oder tendenziell belastbar, die zwar momentan nicht greifbar sind, deren mögliche Prozesse aber prozeßtechnisch sinnvoll antizipiert werden sollen.
Wird also vom OLG Frankfurt der »Wahrheitsgehalt« der 1.300 Seiten einmal grundlegend bestätigt, ist die angestrebte Verfolgung & Verurteilung weiterer Leute ein Kinderspiel: ihre Prozesse wären reine Blaupausen des vorangegangenen Verfahrens nach der Art des »kurzen Prozesses«.
Von daher scheint die Lage für Recht & Justiz ausgezeichnet: das Verfahren bietet die enorme Chance, einem verhandlungsunfähigen, in seiner Wahrnehmung stark beschränkten und an seiner »Prozeßsubjektivität« gehinderten Angeklagten, der sich an seine »Aussagen« in der Tat nicht »erinnern« kann, den ihm fremden Text womöglich von den Beamten, die ihn schufen, solange als »sein Produkt« vortragen zu lassen, bis die Sache unter Dach und Fach ist.
Wir würden uns deshalb nicht wundern, wenn das Gericht (das bis jetzt anders denkt), Hermann Feiling am Ende doch noch die Verhandlungsunfähigkeit zugesteht. Man wäre dann auf noch besserem Niveau, man hätte:
a) eine »Aussage« eines Bewußtlosen, aber von »bewußten« Beamten gezeugt, und
b) müßte man jetzt nur dies aussagestiftende Subjekt aus dem Gerichtssaal verbannen, wo er ja doch nur dementiert und im übrigen seine bloße Anwesenheit zur wahren Anklage würde.
Damit wäre man nämlich erst recht eigentlich ganz unter sich: von der »Aussage« bis zur Verurteilung ohne das deliquente Subjekt. »Aussage« wie Prozeß liefen dann also in funktionabler Selbsttätigkeit ohne jenen, um den es sich angeblich die ganze Zeit dreht.
Gelingt das, dann wären politische Prozesse endlich nur noch dazu da, das was man aus einem Hilflosen herausgeholt hat, ohne jeglichen Kontrollvorgang durch eine Rechtsstaatlichkeit »Im Namen des Volkes« zu einer bloßen Angelegenheit einer »sinngemäß zusammenfassenden« Polizei zu machen.
Der angesetzte Prozeß wird nicht allein dadurch zum Verbrechen, daßer ( bis jetzt) gegen einen verhandlungsunfähigen Menschen stattfinden soll, der obendrein haftunfähig ist, sondern dadurch, daß vor Gericht erneut dessen Recht auf Menschwürde und körperliche Unversehrtheit angetastet werden sollen:
- psychisch dadurch, daß ihm zu seiner Pein unendlich lang etwas als sein eigenes vorgetragen werden soll, worunter er zutiefst leidet, wovor er große Angst äußert, wogegen er sich wehrt.
- medizinisch dadurch, daß die wahrscheinliche Dauer eines aufwendigen Prozesses ihn an jeder Therapie und nicht zuletzt an einer ruhevollen psychosomatischen Rehabilitation hindert.
- dessen zunehmende »Epilepsieneigung« endlich durch den Streß eines Prozesses wirkungsvoll gefördert wird.
Wenn wir dazu aufrufen, diesem Prozeß allen Widerstand & Protest entgegenzusetzen und in diesem Zusammenhang auf die Verhandlungsunfähigkeit Hermann Feilings hinweisen, dann nicht nur in dem vordergründigen Sinne, daß ein Sprengsatz ihm das Augenlicht und beide Beine geraubt hat (was für einen Richter nur heißt, daß er sich das noch selber zuzuschreiben hat), sondern wir wehren uns gegen die Zerstörung, die Folter und Unrechtmäßigkeit, die ihn während der Vernehmungen zu erlogenen »Aussagen« gepreßt hat und die ihn während des bevorstehenden Verfahrens erneut zum gequälten Objekt einer Prozeßfarce werden lassen soll.
Die Herstellung von solchen »Opfern« gehört zum Ethos der Bundesanwaltschaft, zur Unsittlichkeit der deutschen Justiz.
Für uns ist Hermann Feiling ein schwer getroffener Mensch, nicht aber ein bloßes »Opfer«, das nun auch noch von uns behandelt und verwaltet werden müßte, sondern wir sehen in ihm einen aufrechten Menschen, der sich aktiv unter unmenschlichen Bedingungen schon damals gegen das wehrte, was ihm angetan wurde. Einen lieben Freund, der heute vollbewußt und unter Verfügung über seine ganze menschliche & politische Identität gegen eine Barbarei kämpfen will, die ihm und anderen nun noch bevorsteht.
Es ist sicher richtig, daß Hermann Feiling für diesen Prozeß medizinisch wie psychosomatisch verhandlungsunfähig ist, eine häufiger auftretende Epilepsie ihn rechtlich ohne Einschränkungen als »Prozeßsubjekt« ausschließt, daß alle Menschlichkeit und jede Psychologie gegen seine erneute Traumatisierung sprechen, das ist die eine Seite des Geschehens; die andere ist gewiß die, daß Hermann mit der nötigen Verachtung und Indignation voll verhandlungsfähig dem Gericht einen Prozeß erklären sollte, dem er dessen Schandtat vorzuwerfen hat - nicht umgekehrt: soweit dies in seinen Kräften steht!
Gegen Hermann Feiling wurde das Verfahren nach seiner Vernehmung letztendlich eingestellt, Sybille Straub zu 15 Monaten Knast auf Bewährung verurteilt und Sylvia Herzinger freigesprochen.