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9.01.2003

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Die Flucht aus dem Territorium

Argentinien: Ein Jahr nach dem Staatsbankrott - Hunger, besetzte Fabriken und Sicherheitsneurosen. Während Milliarden argentinischen Kapitals im Ausland liegen, kämpfen die Leute im Land um eine Zukunft.

© Die WochenZeitung; Zürich, 2003--01--09, Seite 9
Von Andreas Fanizadeh, Buenos Aires

Auf halbem Weg von Buenos Aires nach Rosario liegt im flachen Land das Städtchen Baradero. Es ist Frühsommer, blauer Himmel, die Luft heiss und schwül. Auf der Überlandstrasse künden Werbetafeln davon, dass wir uns einem «Zentrum des Minitourismus» nähern. Menschen stehen am Strassenrand und bieten Fisch und Angelgerät zum Verkauf an. 4000 EinwohnerInnen zählt der Hauptort Baradero, weitere 30 000 leben verstreut im angrenzenden Gebiet. Der von lila blühenden Jakarandabäumen umsäumte Dorfplatz lässt nicht erahnen, dass sich ein paar hundert Meter weiter ein schiffbarer Seitenarm des mächtigen Paraná durch die Landschaft schlängelt. Ein merkwürdiger süsslicher Geruch hängt in der Luft. Hinter einem Hügel Richtung Fluss sind mitten in das Städtchen die Anlagen einer wuchtigen Raffinerie gebaut. Das stählerne Stinktier produziert Maisöl, Maisgriess und Tierfutter. Auf «Minitourismus» deutet in Baradero hingegen wenig, um nicht zu sagen ausser dem Werbeschild auf der Landstrasse nichts. Hauptarbeitgeber war und ist die Raffinerie. In den siebziger Jahren beschäftigte sie fast 1400 Menschen. Heute sind es nur noch um die 300. Vor der Kirche warten wir auf Pater Jorge. Gegen Mittag erscheint der Pater, eine schwergewichtige, sympathische Erscheinung. Die Karriere in Rom hat er ausgeschlagen und leitet stattdessen die örtliche Santiago-Ferrari-Schule, samt deren sozialen Einrichtungen. Etwa tausend SchülerInnen, von der Vor- bis zur Abendschule, nehmen eines ihrer Bildungsangebote wahr. Der monatliche Eigenanteil für die Kosten eines Schülers beträgt 35 argentinische Pesos. Nach der Währungsabwertung sind dies jetzt umgerechnet rund 15 Franken. Das scheint nicht viel. Doch mit der anhaltenden Rezession und dem Kollaps der Ökonomie vor einem Jahr können viele eine solche Gebühr nicht mehr bezahlen. Und die Schule hat Mühe, dem Lehrpersonal die Gehälter auszuzahlen. 350 argentinische Pesos verdient ein Lehrer der Santiago-Ferrari-Schule monatlich. Armut ist an einem Ort wie Baradero kein plötzlich auftauchendes Phänomen. An die befestigten Strassen und Häuser grenzten schon immer die Hütten der Marginalisierten. Neu ist allerdings, so stellt Pater Jorge fest, dass sich in den letzten zwei Jahren bei den SchülerInnen aus «besserem Hause» ebenfalls Anzeichen von Mangelernährung häuften. Öfter kippten Kinder aus so genannten Mittelstandsfamilien in der Schule ohnmächtig um. Ihre Eltern schämten sich und versuchten den sozialen Abstieg so lange wie möglich zu verbergen. 1988 öffnete die Schule (auch mit Spenden aus Europa) den ersten Speisesaal für bedürftige Kinder auch am Wochenende. Unter der Woche ist die Schulspeisung obligatorisch. Ende der neunziger Jahre kamen zwei weitere Speisesäale hinzu. Was am Anfang für 20 Schulkinder am Wochenende gedacht war, ernährt heute, so gut es geht, fast 300, darunter vor allem Kinder im Vorschulalter und auch schwangere Frauen. Am Wochenende und in den Ferien beruht die Versorgung ausschliesslich auf Spenden und der Arbeitskraft der Frauen, die freiwillig und mit Zahnlücken in der Küche stehen. Allein auf den Staat verlässt man sich an Orten wie Baradero schon länger nicht mehr und ist zu Selbsthilfe und Subsistenz-Wirtschaft übergegangen. Stolz zeigt uns Marina, die Leiterin des Comedor Popular Tita Aroche, den üppigen Gemüsegarten. Und hinter der Küche wird im Freien gerade ein neuer Ofen zum Brotbacken errichtet. Daneben wühlt in einem Bretterverschlag ein glückliches Schweinchen. Von seiner Bestimmung ahnt es nichts. Doch auch im Comedor Popular Tita Aroche bevorzugen die Kleinen neben den ewigen Nudeln zur Abwechslung mal ein «Milanesa», die argentinische Variante des fettigen panierten Schnitzels. La Ciénaga - der Sumpf Gegen Ende des Jahres entdeckte auch die Frau des argentinischen Präsidenten Eduardo Duhalde plötzlich Hunger und Armut auf dem Lande. Ihr Mann darf als Übergangspräsident bei den vorgezogenen Wahlen im April nicht kandidieren. Im innerparteilichen Streit der tonangebenden Peronisten versucht sein Lager nun unter allen Umständen die Wiederauferstehung des früheren Präsidenten Carlos Menem zu verhindern. Und so reiste die Präsidentengattin mit grosser Medienaufmerksamkeit Ende November in die nordwestlichen Provinzen, um präsidiale Anteilnahme für die Armen zu bekunden. Die Hauptstadtzeitungen hatten zuvor von unterernährten und verhungernden Kindern berichtet; ganz so, als ob diese Situation für die von peronistischen Clans regierten Provinzen wie Tucuman eine Sensation darstellte. In Argentinien existiert zwar im Gegensatz zu den meisten anderen südamerikanischen Ländern ein rudimentäres wohlfahrtsstaatliches System, Anspruch auf Sozialhilfe inbegriffen. Doch versandet das meiste Geld in der Bürokratie, insbesondere bei den Parteigängern des Peronismus. Niemand glaubt, dass sich nach den Wahlen etwas daran ändert. Nach Ansicht des Publizisten Horacio Verbitsky begeht die jetzige Regierung des Peronisten Duhalde den gleichen Fehler wie schon diejenige Raúl Alfonsíns, die als erste demokratische in den achtziger Jahren auf die Diktatur folgte. «Nach dem Schema des Peronismus vor fünfzig Jahren setzen sie auf eine nationale Allianz mit der Bourgeoisie, ohne wahrzunehmen, dass es in Argentinien diese nationale Bourgeoisie gar nicht mehr gibt.» kritisiert Verbitsky. Er ist davon überzeugt, dass die bestimmenden Wirtschaftsgruppen Argentiniens transnational agieren und sich wenig für einen funktionstüchtigen Nationalstaat interessieren. Er schätzt, dass seit der Diktatur und dem Beginn der grossen Verschuldung argentinisches Kapital etwa in Höhe der jetzigen Auslandsschuld ausser Landes gebracht wurde. Der letzte grosse Schub von öffentlicher Verschuldung und privater Kapitalflucht ereignete sich unter Carlos Menem in den neunziger Jahren. Auslöser dieser für Argentinien zerstörerischen Kapitalflucht war die von Menem und seinem Wirtschaftsminister Domingo Cavallo Anfang der Neunziger erlassene 1:1-Konvertibilität des argentinischen Peso zum US-amerikanischen Dollar. Da der Peso im Verhältnis zum Dollar von Anfang an stark überbewertet war, kam dies für das argentinische Kapital einer Einladung gleich, sich ausserhalb des Landes zu engagieren. Dies war wesentlich lukrativer, als in die Produktion argentinischer Waren zu investieren, die durch die Überbewertung des Peso für den Export zu teuer geworden waren. Deswegen - und aufgrund der Privatisierung der öffentlichen Dienste - wanderten Milliarden aus Argentinien über Finanzunternehmungen und Immobilienfonds in die USA, nach Uruguay, in die Schweiz oder die Karibik. Im sich abzeichnenden Staatsbankrott versprach die Flucht in den US-Dollar ein ausserordentliches Geschäft. Ein Geschäft, das der im Land verbliebene Teil der Wirtschaftsnation mit ungeheuren Verlusten bezahlen musste. Für die Grundzüge der Menem'schen Wirtschaftspolitik zeichnete mit Domingo Cavallo ein Minister verantwortlich, der es schon während der Militärdiktatur für kurze Zeit an die Spitze der argentinischen Zentralbank gebracht hatte. Cavallo sollte in gleicher Mission auch beim Menem-Kontrahenten und Präsidentennachfolger Fernando de la Rúa wieder auftauchen. Als Wirtschaftsminister brachte er dem Land und dem über die Unruhen vor einem Jahr gestürzten de la Rúa kein Glück. Für Verbitsky, der regelmässig in der Tageszeitung «Pagina/12» veröffentlicht und auch Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Cels ist, verkörpert Cavallo die politisch-ökonomische Konstante in der jüngeren Geschichte Argentiniens. Über alle Regierungs- und Systemwechsel der letzten drei Jahrzehnte hinweg blieb Cavallo in einer führenden Position. Er ist der sichtbare Vertreter der Eliten, die ohne Rücksicht auf Verluste die Zertrümmerung des argentinischen Nationalstaats betrieben. Zurzeit gilt Verbitskys Hauptaufmerksamkeit allerdings nicht der Ökonomie und Cavallo, sondern dessen Bruder im Geiste, dem Oberbefehlshaber der Armee, General Ricardo Brinzoni. Dieser war, im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger Martín Balza oder dem Gros des heutigen argentinischen Offizierscorps, in den siebziger Jahren an schweren Menschenrechtsverbrechen beteiligt. Dies belegen jüngst veröffentlichte Dokumente. Doch der Oberbefehlshaber wird weiterhin durch

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