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9.01.2003

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Die Flucht aus dem Territorium

Argentinien: Ein Jahr nach dem Staatsbankrott - Hunger, besetzte Fabriken und Sicherheitsneurosen. Während Milliarden argentinischen Kapitals im Ausland liegen, kämpfen die Leute im Land um eine Zukunft.

© Die WochenZeitung; Zürich, 2003--01--09, Seite 9
Von Andreas Fanizadeh, Buenos Aires

ein Netz von Falschaussagen und die Amnestiegesetzgebung vor Amtsenthebung und Verurteilung geschützt. Für viele ArgentinierInnen eine Ungeheuerlichkeit, da dies eine weitgehend aus der aktuellen Politik gedrängte und reformierte Armee erneut in den Schatten der furchtbaren Jahre des Staatsterrorismus stellt. Tauschmärkte und «Countries» Trotz der wachsenden sozialen Kluft zwischen Arm und Reich blieben viele der sozialen Proteste im vergangenen Jahr weitgehend friedlich. Allerdings geht der Staat gegen die politische Opposition aus der Unterschicht zuweilen auch mit brutalen Mitteln vor. Im Laufe der Massenproteste vor einem Jahr wurden über dreissig Personen getötet, viele Menschen zum Teil schwer verletzt. Um die Beurteilung einzelner Fälle wird derzeit vor Gericht gerungen. Der Zustand der argentinischen Polizei ist jedoch allgemein bedenklich. Ideologisch bestehen teilweise starke Verbindungen zur Zeit der Diktatur, darüber hinaus sind die Ordnungskräfte schlecht bezahlt und betreiben deswegen oftmals Zusatzgeschäfte. Aber entgegen den zumeist negativen Schlagzeilen ist das Leben in der Metropole Buenos Aires nach wie vor von grosser Offenheit gekennzeichnet. Prägend für das Bild der riesigen Stadt ist die urbane Lebensweise eines breiten Mittelstands, auch wenn die Hundertschaften ambulanter Händler und MüllsammlerInnen laufend zunehmen. Viele ArgentinierInnen versuchen über die Gegensätze hinweg sehr solidarisch miteinander umzugehen. In Staatskrise und Massenprotesten vom letzten Jahr hat die Gesellschaft einen demokratischen Schub erfahren. Viele Menschen, die noch von den nicht allzu fernen Ereignissen der Diktatur traumatisiert waren, haben sich über die Ereignisse (re)politisiert. Überall wurden Nachbarschaftskomitees ins Leben gerufen, eine Alternativökonomie mit Tauschmärkten entstand. An den positiven Erfahrungen, die viele im Protest spontan erfuhren, ändert auch nichts, dass manches mehr Ventil- als Lösungscharakter zu haben scheint. Viele der Stadtteilkomitees wurden mittlerweile von kommunistischen Kadern geentert. Und die alternative Ökonomie mit ihren idealistischen Tauschmärkten stiess sehr schnell an die Grenzen der sie nach wie vor umgebenden kapitalistischen Realität. Eine die verschiedenen Fraktionen der Linken einende Oppositionskraft existiert in Argentinien heute nicht. Das Bündnis Frepaso ist über die Regierungskoalition mit de la Rúa implodiert. Nach wie vor liegen zwischen einem herabgesunkenen Mittelständler und einem schon immer Marginalisierten Welten. Die stärkste Oppositionskraft geht derzeit von den ausserparlamentarisch agierenden Fraktionen der Piqueteros aus, den organisierten Arbeitslosen. Teilweise agieren sie mit Gewerkschaftsfraktionen zusammen, die sich nicht so sehr an der Arbeiteraristokratie orientieren. Landesweit sind derzeit über 150 Fabriken besetzt. Dabei handelt es sich um Betriebe aller möglichen Branchen, die aus Rentabilitätsgründen von ihren Besitzern einfach aufgegeben wurden. Diese werden auch in Selbstverwaltung nicht über Nacht einfach wieder konkurrenzfähig. Der Schlüssel liegt in Vermarktung und Distribution. Gelänge es ihnen, sich durch die bewusste Unterstützung ausländischer Konsumentengruppen einen neuen Markt zu erschliessen, wären sie zurück im Geschäft und die No-Logo-Idee liesse sich vielleicht attraktiv und exemplarisch gegen die Konzernmarken umsetzen. Die ArbeiterInnen der übernommenen Textilfabrik Brukman in Buenos Aires nähen nach Schnitten von Yves Saint Laurent, ohne die Waren unter dem Markennamen verkaufen zu dürfen. Doch auch ein anderer Trend ist in Argentinien spürbar. So wie das grosse Kapital ausser Landes geflüchtet ist, kapseln sich immer mehr Wohlhabende von der ärmeren Nachbarschaft ab. Privat gesicherte und geschlossene Strassenzüge nehmen wie in den USA zu, in der Agglomeration von Buenos Aires und anderen Grossstädten entstehen so genannte Countries. Man erreicht sie über Autobahnzubringer nach ein bis zwei Stunden Fahrt vom Geschäftszentrum. Geschützt von Zaun und Wachpersonal kann man dort unter seinesgleichen die Füsse in den Swimmingpool hängen und dazu Saft schlürfen. Selbst die eigenen Eltern kommen ohne vorherige Anmeldung nicht herein. Oftmals bestehen diese Countries nur aus zwei oder drei mickrigen Strassenzügen. Abends und am Sonntag wird dort die immer selben zwei Strassen mit dem Hund rauf- und runtergejoggt, vorbei an der immer gleichen Nachbarschaft. Öffentliche Einrichtungen sind in der Mehrzahl der einfacheren Siedlungen nicht vorgesehen. Die Welt draussen wird als feindlich wahrgenommen, man durchquert sie in Autofahrten zum Shoppingcenter mit heruntergedrückten Knöpfen. Die Soziologin Maristella Svampa berichtet, dass inzwischen über 400 solcher privat gesicherten Mittelstandsinseln entstanden sind. Die wenigsten davon sind wirklich luxuriös und den Superreichen vorbehalten. Leuten wie Pater Jorge ist diese Entwicklung ein Grauen. Aber in Baradero gibt es wohl nicht genug Wohlhabende, dass sie gleich eigene Siedlungen gründen. Arbeit und Kapital sind aus der Region verschwunden. Für das mittelständische Baradero ist Urlaub in Miami nicht mehr drin. Inländische Dienstleistungen und Waren können sich allerdings noch einige leisten. Wir sitzen bei Nudeln und Salat in einem gut gefüllten Gartenlokal. Im Schatten einer kräftigen Birke, bedient von den Nachfahren Schweizer Einwanderer, macht der Pater seine Scherze über Gott und die Welt. Die Kapitalflucht ist für ihn ein zentrales Thema. Das andere ist der argentinische Zentralismus und formuliert sich aus der Sicht von Suppenküche und Provinz so: «Gott gibt es überall, aber bedienen tut er nur in Buenos Aires.» Kasten: Eine Diktatur später Obwohl sich die Regierungen Argentiniens in den neunziger Jahren an die Vorgaben des IWF hielten, schlitterten Staat und Gesellschaft in ein gigantisches Fiasko. Nach Liberalisierung der Ökonomie und Privatisierung der grossen Staatsbetriebe war Argentinien zum Jahreswechsel 2001/2002 pleite. Die Banken schlossen, und auf der Strasse kam es zu Massenprotesten. In zehn Tagen erlebte das Land nicht weniger als fünf Präsidenten. Ein Jahr nach dem Bankrott bleibt die Lage unter dem peronistischen Übergangspräsidenten Eduardo Duhalde ungemütlich. Der argentinische Peso verlor nach seiner Freigabe im letzten Jahr mehr als zwei Drittel seines Werts, um die privaten Einlagen bei den Banken wird bis heute prozessiert. Die Regierung hat den Schuldendienst ausgesetzt und vom IWF keinen neuen Kredit erhalten. Die Auslandsschuld Argentiniens beläuft sich auf etwa 150 Milliarden US-Dollar. Nach vier Jahren Rezession ist etwa die Hälfte der 39 Millionen ArgentinierInnen in die Armut abgerutscht. Das sind doppelt so viele wie noch vor zwei Jahren. In den siebziger Jahren galten nur 2 Millionen als arm. Die Situation auf dem Land und in den Vorstädten erinnert zunehmend an Dritte-Welt-Verhältnisse. In den nordwestlichen Provinzen sterben Kinder an Hunger, obwohl das fruchtbare Land leicht ein Vielfaches seiner Bevölkerung ernähren könnte. Argentinien galt noch Mitte der Fünfziger als ein relativ entwickeltes Land, in dem die Bevölkerung in der Breite am nationalen Reichtum teilhatte. Mit der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 änderte sich das und wurde auch die Grundlage für den jetzigen Staatsbankrott gelegt.