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27.9.2001

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Ein aufhaltsamer Abstieg

Argentiniens Schulden der Vergangenheit: Wer hat sie gemacht, wer soll sie bezahlen?
Argentiniens Regierung hat sich in die ruinöse Hinterlassenschaft aus Peronismus und Diktatur gefügt, die Unruhe bei der Linken wächst.

© Die WochenZeitung; Zürich; 2001-09-27; Seite 15
Von Andreas Fanizadeh

Auch Remo José Marenzi wird dieser Tage auf die Regierung fluchen. Marenzi ist Pensionär, und Ministerpräsident Fernando de la Rúa hat neben den Staatsbediensteten nun auch den RentnerInnen die Bezüge kürzen lassen. Der argentinische Staat ist seit längerem praktisch pleite. An der hohen Verschuldung hat allerdings auch Pensionist Marenzi einmal mitgewirkt. Der Ausgangspunkt der argentinischen Schuldenkrise liegt in der Phase der Militärdiktatur (1976-1983). Marenzi war in dieser Zeit für die Polizei in Buenos Aires tätig und befehligte geheime Lager in San Luis oder Neuquén. In hauptstädtischen Folterzentren wie Olimpo oder Club Atletico liessen seine Leute hunderte Oppositionelle verschwinden. Parallel dazu setzte die damalige Militärjunta ökonomisch den Grundstein für das heutige Desaster. In den sieben Jahren der Diktatur schwoll die argentinische Auslandsverschuldung von 8 auf 45 Milliarden US-Dollar an. Und der einmal in Gang gesetzte Kreislauf von Zinszahlung und Neuverschuldung schraubte sich bis zu den 130 Milliarden US-Dollar dieser Tage hoch. Hauptkommissar Marenzi verbringt seinen Lebensabend in einem kleinbürgerlichen Viertel der Hauptstadt nahe des Parks Rivadavia. Selten wird dort seine Ruhe gestört. Die Militärs erzwangen in den achtziger Jahren für die unter der Diktatur begangenen Verbrechen eine weitgehende Amnestie. Doch an einem kühlen Samstag im winterlichen Juli hatten vor Marenzis Haus in der Yatay, Hausnummer 395, Wasserwerfer und Einsatzkräfte der Polizei Stellung bezogen. Marenzis hatten die Fensterrollladen vorsorglich heruntergelassen. Einige Nachbarn hatten es ihnen gleichgetan. Aber viele AnwohnerInnen in den umliegenden Gebäuden hatten die Fenster geöffnet, standen auf ihren Balkonen und applaudierten den DemonstrantInnen auf der Strasse. Die «H.I.J.O.S» (Hijos por la Identidad y la Justicia contra el Olvido y el Silencio) hatten zu der Aktion aufgerufen. Mehrere tausend Menschen zogen am Haus Marenzis vorbei und forderten dessen Bestrafung. Auf die Fassade klatschten Beutel mit blutroter Farbe, ein paar Steine flogen. Der Ordnerdienst der «H.I.J.O.S.» achtete jedoch darauf, dass es beim symbolischen Protest blieb. Vom Hausdach leerten ein paar Vermummte noch eine Badewanne voll Schmutzwasser auf die Polizisten. Dann ging es unter Trommeln und Tänzen einer «Murga»-Gruppe weiter Richtung Avenida Corrientes. Die «H.I.J.O.S.» sind eine junge, sehr aktive Organisation. In ihr haben sich Nachfahren der mehr als 30 000 unter der Diktatur Verschwundenen zusammengeschlossen. Vor dem Haus Marenzis hielt auch eine der Mütter von der Plaza de Mayo eine Rede. Die Organisation der Nobelpreisträgerin Hebe Bonafini hat im Kampf gegen die Diktatur viel geleistet, ist wegen ihrer Orthodoxie aber auch gefürchtet. Ein Hauch von Veteranentum zog durch die Versammlung, als sie vor Marenzis Haus über Arbeit und Kapital referierte. Den Jüngeren wurde das zu viel, und der rebellische städtische Nachwuchs begann einfach zu klatschen. Dass es einen Zusammenhang zwischen Aktionen der «H.I.J.O.S.» und .denen der vorstädtischen Arbeitslosen, der «Piqueteros», gibt, hätte dort sicherlich niemand bestritten. Aber die Mehrheit pocht heute auf unterschiedliche und eigenständige Aktionsformen. Keine Reformen, kein Geld Beim Abendessen erzählt der Kriminologe Juan Feliz Marteau von den Schwierigkeiten einer Polizeireform in Buenos Aires. Er gehört zur Unión Cívica Radical, zu der regierenden Partei von Ministerpräsident Fernando de la Rúa. Er wohnt nahe der medizinischen Fakultät in einem Viertel, dass so grossstädtisch, lebendig und aufgeräumt wirkt, als wäre es in Madrid, Rom oder Paris. Die Polizei von Buenos Aires, klagt er, habe immer noch einen katastrophalen Ruf. Sie gilt als autoritär und korrupt. Auch mit dem Ende der Diktatur vor achtzehn Jahren habe sich daran wenig geändert. Marteau arbeitet in einer Kommission, die Vorschläge unterbreiten soll, wie das Polizeisystem zu föderalisieren und zu demokratisieren sei. Bisher untersteht auch die Polizei der Hauptstadt einer zentral gelenkten Bundesbehörde. Diese orientiert sich traditionell am rechten Peronismus und wird von den konservativen Provinzen dominiert. Zumindest das könnte sich unter der Mitte-links-Koalition de la Rúas also ändern. Anderes wohl kaum. Wie viel ein Polizist verdient? Zu wenig, meint Marteau. Um in der teuren Hauptstadt zu überleben, müssten StreifenpolizistInnen drei Jobs gleichzeitig verrichten. Was diese auch tun und entsprechend ihren Dienst versehen. In der Tat fällt es schwer, sich vorzustellen, wie jemand mit weniger als 1500 Pesos in einer teuren Grossstadt wie Buenos Aires auskommen soll. Im offiziellen Wechselkurs wird ein Peso immer noch für einen Dollar gehandelt. Eine einfache Busfahrt in Buenos Aires kostet knapp einen Peso. Industriell gefertigte Waren sind angesichts der Löhne geradezu unerschwinglich, die Mieten horrend. Wirtschaftsminister Domingo Cavallo erklärte unlängst, er könne sich nicht vorstellen, mit weniger als 10 000 Pesos halbwegs durch den Monat zu kommen. Wegen Geldknappheit werden die Gehälter der Staatsangestellten in einigen Provinzen nur noch bis 500 Pesos bar ausbezahlt. Was darüber liegt, gibt es in Gutscheinen. Ein schlechter Trost mag da für viele sein, dass ihr Verdienst ohnehin darunter liegt. «Piqueteros», die neue Opposition An allen Ecken des Landes schwelt eine massive Unzufriedenheit; es kommt immer wieder zu Streiks und - bislang kleineren - Rebellionen. Viele der grossen Gewerkschaften sind zu sehr mit dem alten Apparat und den Parteien verstrickt. Links von ihnen haben die «Piqueteros», organisierte Arbeitslose, Teilzeitbeschäftigte und Unterbezahlte, an Gewicht gewonnen. Diese soziale Gruppe umfasst über dreissig Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung Argentiniens, Tendenz steigend. Für das erste Halbjahr 2001 sind dieser neuen sozialen Bewegung 638 «wilde» Blockade- und Besetzungsaktionen zuzurechnen. Im gesamten Jahr 2000 waren die «Piqueteros» «nur» 514 Mal aktiv gewesen. Wie schnell die Situation eskalieren kann, zeigten die Ereignisse im Nordwesten des Landes. Im Juni hatten «Piqueteros» nahe der Kleinstadt General Mosconi in der

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