27.9.2001
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Ein aufhaltsamer Abstieg
Argentiniens Schulden der Vergangenheit: Wer hat sie gemacht, wer soll sie bezahlen?
Argentiniens Regierung hat sich in die ruinöse Hinterlassenschaft aus Peronismus und Diktatur gefügt, die Unruhe bei der Linken wächst.
© Die WochenZeitung; Zürich; 2001-09-27; Seite 15
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Von Andreas Fanizadeh
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nordwestlichen Provinz Salta die Bundesstrasse 34 blockiert. Nach vierzehn Tagen hatte die Polizei in der konservativ regierten Provinz genug, und sie schoss scharf. Die Querschläger streckten zwei unbeteiligte Passanten nieder. Der 27-jährige Metallarbeiter Carlos Santillán und der 17-jährige Oscar Barrios starben. Viele Medien rückten daraufhin die «Piqueteros» in die Nähe bewaffneter Freischärler. Aber dafür, dass die Arbeitslosen aus General Mosconi bewaffnet gewesen seien, fand sich kein Beleg. Im ganzen Land reagierten Aufgebrachte auf die Schüsse mit weiteren Besetzungen und Blockaden.
Dass die Toten ausgerechnet in der Provinz Salta zu beklagen waren, ist kein Zufall. Die Repression der Ordnungskräfte nimmt mit der zunehmenden Armut Richtung Nordwesten zu. Die Mehrheit der Bevölkerung dort ist indianischer Herkunft. Und während das weisse Argentinien dieser Tage sich seiner europäischen Herkunft und Pässe besinnt und die Koffer packt, rückt das indianische Bolivien vom Nordwesten her nach. Für Schlagzeilen sorgte ebenfalls die Ermordung einer jungen Bolivianerin. Sie wurde im Grossraum Buenos Aires aus der S-Bahn gestossen. Aus Boliviens Hauptstadt La Paz reiste danach eigens eine Delegation der Regierung an, um sich vor Ort zu informieren und den Ernst der Lage zu dokumentieren.
Der Staat hat viele vergessen
Zapala ist eine kleine Garnisonsstadt 1500 Kilometer südwestlich von Buenos Aires in der Provinz Neuquén. Hier am Rande Patagoniens lebt Adriana Marcos mit ihren zwei halbwüchsigen Kindern. In den Siebzigern gehörte sie als junge Frau zu einer Sanitätseinheit der linksperonistischen Montoneros. Sie hielt sich für einen Einsatz bereit, der nie kommen sollte. Stattdessen erschien die Geheimpolizei. Adriana überlebte die Gefangenschaft. Heute arbeitet sie als Ärztin und für einen bescheidenen Lohn im kleinen städtischen Spital von Zapala. Die Provinz Neuquén sei mit ihren Sozialleistungen innerhalb Argentiniens das «kleine Kuba», sagt sie. Auch wenn es nach dem Verkauf der Erdölvorkommen Neuquéns an ein spanisches Unternehmen zügig bergab ginge. Im Rahmen ihrer Arbeit, aber auch in ihrer Freizeit, fährt sie zusammen mit ihrer Freundin Vicky aufs Land, um der dort ansässigen indianischen Bevölkerung, die zu den Mapuche gehört, eine medizinische Grundversorgung zu garantieren. Auch lokale Zahnärzte konnte sie überreden, regelmässig ein paar Stunden dranzuhängen. Die traditionell lebenden Mapuche verfügen über keinerlei eigene Geldeinkünfte. Die staatliche Sozialhilfe beschränkt sich auf das Allernotwendigste, die regelmässige Zuweisung eines Sacks mit Naturalien und Nutzgegenständen.
Stolz zeigt uns Adriana ihre selbst gefertigten, fotokopierten Gesundheits- und Ernährungsfibeln. Am Abend kommt der Tierarzt in ihrem Häuschen vorbei. Adriana rührt auch medizinische Salben aus Kräutern der Umgebung selber an. Ihre Pasten sind gegen einige Krankeiten sehr wirksam und vor allem wesentlich günstiger als die teuren Präparate der Pharmaindustrie. Der Tierarzt weiss dies und einen guten Schluck Mate zu schätzen.
«Da vorne», sagt Adriana und deutet aus dem Auto auf einen Geröllhaufen in der wüstenhaften Landschaft bei Zapala. «Diese Hütte dort ist einer unserer Treffpunkte mit den Mapuche.» Wir fahren durch eine einsame, ausgetrocknete Landschaft Richtung Laguna Blanca. Schwer vorzustellen, dass man hier leben kann. Wovon auch? Nicht weit entfernt zeichnen sich gegen die Ebene die Ausläufer der Kordilleren ab. Keine sechzig Kilometer von hier, noch auf argentinischer Seite, liegt San Martín de los Andes, ein bekannter und mondäner Wintersportort. Dort können reiche ArgentinierInnen und ausländische TouristInnen Ski fahren. Die Menschen, denen Adriana hilft, haben noch nicht einmal das Geld für eine Zahnbürste. Menschen, die wie Adriana glaubten, Glück und Reichtum sollten allen gehören, bekamen vor zwanzig Jahren eine Kapuze übergestülpt. In den siebziger Jahren, so steht zu befürchten, hat die neue Linke Lateinamerikas mit der Schlacht um den Sozialismus auch die um den Wohlfahrtsstaat verloren.
Vieles lässt sich nicht vergessen
Ein weiterer kühler und sonniger argentinischer Wintertag, diesmal in La Plata, der Hauptstadt der Provinz Buenos Aires. Vor dem Bundesgericht im Zentrum von La Plata sollen heute zwei ZeugInnen gehört werden. Eine Frau, die von den Militärs gefoltert wurde, und ein Arzt, der während der Diktatur im Bezirkskrankenhaus von Quilmes in Buenos Aires tätig war. Der Arzt soll Auskunft über den Tod einer verschleppten Frau und ihres Babys geben. Die Machtübernahme der Militärs in Lateinamerika haben die Staaten der ersten Welt mit ihren Milliardenkrediten finanziert. In Argentinien hat die Diktatur mehr als 30 000 Menschen das Leben gekostet. Achtzehn Jahre danach fragt der Vorsitzende Richter in La Plata den Arzt aus Quilmes, ob es ihm nicht doch vielleicht komisch vorkam, dass Militärs eine hochschwangere Frau mit Folterspuren zur Entbindung in sein Krankenhaus brachten. Nein, nein. Ihm sei damals nichts aufgefallen. Als sie vorne reinkamen, ist er zur anderen Tür hinaus. Die Papiere des tot geborenen Babys muss sein Chef gefälscht haben. Und der Chef? Der ist natürlich schon lange tot.
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