4.03.2004
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Flitterwochen mit der Regierung
Argentiniens «gefährliche Klasse» - Die Stadtsoziologin Maristella Svampa über das Sichherheitsbedürfnis des Mittelstands, den Machismo und die Piqueteros, die Bewegung der Arbeitslosen.
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Von Eva-Christina Meier © Die Wochenzeitung, Zürich, 04.03.2004
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Argentinien zählt etwa vierzig Millionen EinwohnerInnen. Wieviele Leute
sind heute arbeitslos und bekommen eine Unterstützung?
Die offizielle Arbeitslosenquote lag letztes Jahr bei 21 Prozent. Die
Hälfte der argentinischen Bevölkerung gilt heute als verarmt. Von den
Arbeitslosen erhalten etwa zwei Millionen über den «Plan Jefes y jefas
de hogar» eine Hilfe. Dieses Programm sieht vor, dass jeweils eine
Person pro Familie eine Unterstützung bekommen kann. Das ist der grösste
Sozialplan, den es derzeit in Lateinamerika gibt. Etwa zehn Prozent
dieser Sozialpläne werden direkt von Piquetero-Organisationen
kontrolliert und verteilt. Durch die finanzielle Unterstützung der
Regierung Kirchner haben viele Piquetero-Gruppen einen qualitativen
Sprung vollzogen. Schon bestehende Einrichtungen wie gemeinschaftlich
betriebene Backstuben, Schneidereien und kleinere Manufakturen wurden
gestärkt. Es werden nun vereinzelt Überschüsse erzielt und darüber
debattiert, was damit geschehen soll. Bislang hatten die Piqueteros eine
Subsistenzwirtschaft betrieben. Jetzt entstehen neue Möglichkeiten. Das
ist eine Herausforderung für die Selbstverwaltung, eine wahre Feuerprobe
für die Organisationen, die sich nun selbst mit kapitalistischen
Praktiken beschäftigen müssen.
Nach Währungscrash und Sperrung der Bankkonten befand sich auch der
städtische Mittelstand Ende 2001 in heller Aufregung.
Ja, aber inzwischen beschweren sich wieder viele, vor allem in Buenos
Aires, wenn die schlechter gestellten Piqueteros durch eine
Strassensperrung versuchen, einer politischen Forderung Nachdruck zu
verleihen. Piqueteros sind für sie die Gespenster des ökonomischen
Niedergangs, «Schmarotzer», die von Sozialplänen leben und gewalttätig
sind. Auch die erwerbstätigen Arbeiter haben im Allgemeinen keine
besonders gute Meinung von den Piqueteros. Ich glaube, das ist ähnlich
wie bei der Mittelschicht: Die Vorurteile und die Furcht vor der neuen
«gefährlichen Klasse» überwiegen.
Sie haben den Kampf der Piqueteros nicht nur im Gürtel um Buenos Aires
sondern auch in den ländlichen Gebieten untersucht. Wie gross sind die
regionalen Unterschiede?
Sie sind enorm. In der Stadt General Musconi zum Beispiel gibt es eine
der ältesten und kämpferischten Organisationen. Das ist im Norden, in
der Provinz Salta, einer Erdölgegend. Wie im Süden, im argentinischen
Patagonien, richten sich die Aktionen gegen multinationale Konzerne aus
der Erdöl-, Erdgas- oder Nahrungsmittelindustrie. Viele Leute pendeln
hier zwischen Beschäftigung und Arbeitslosigkeit. Das System permanenter
Rotation erlaubt es, so etwas wie einen «Arbeiterstolz» weiter zu
bewahren. Erfahrungen aus der Arbeitswelt finden so Eingang in die
Prozesse der Arbeitslosen-Selbstverwaltung. Im suburbanen Gürtel um
Buenos Aires sieht es hingegen anders aus. Es ist ein Fabriksfriedhof,
einen anderen Adressaten als den Staat gibt es für die Marginalisierten
dort kaum.
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