4.03.2004
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Flitterwochen mit der Regierung
Argentiniens «gefährliche Klasse» - Die Stadtsoziologin Maristella Svampa über das Sichherheitsbedürfnis des Mittelstands, den Machismo und die Piqueteros, die Bewegung der Arbeitslosen.
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Von Eva-Christina Meier © Die Wochenzeitung, Zürich, 04.03.2004
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Die Auseinandersetzung um Besetzung, Räumung und Wiederbesetzung der
Kleiderfabrik Brukman in Buenos Aires sorgte immer wieder für Schlagzeilen.
Brukman ist einer der symbolträchtigen Orte der Bewegung, ein
gegenkulturelles
Zentrum, in dem sich Piqueteros, Künstler und
Antiglobalisierungsgegnerinnen trafen. Die Nachbarschaftsversammlungen
von Buenos Aires mobilisierten 2002 drei mal zur Verteidigung der
Fabrik. Es gab schwierige Debatten. Die Arbeiterinnen von Brukman
neigten zur «trotzkistischen Lösung». Fabriken sollen demnach
verstaatlicht werden, der Kooperativgedanke sei kapitalistisch und
kleinbürgerlich. Die rechtlichen Auseinandersetzungen mit den alten
Besitzern konnten nicht beigelegt werden und in einem Klima starker
Repression wurde die Fabrik im letzten April geräumt. Ende des Jahres
übertrug die Stadtregierung von Buenos Aires Brukman dann an die
Arbeiterinnen - in der Rechtsform einer Kooperative.
Argentinien hat sich durch die schwere Krise verändert. Was sind für Sie
die auffälligsten Merkmale?
Ganz generell gesagt: Diejenigen, die Arbeit und Einkommen haben, würden
gerne den verarmten Rest vergessen. Die Sympathie für die
Benachteiligten des Neoliberalismus dauerte nur einen kurzen Moment,
ausgelöst von der Krise 2001. Heute hat sich das wirtschaftliche und
politische Panorama für einige Bereiche der Wirtschaft wieder
stabilisiert und die Botschaft an die Armen lautet: «Fügt euch, bleibt
auf euren Plätzen und stört nicht diejenigen, die arbeiten und das Land
neu aufbauen». Natürlich gibt es auch andere Stimmen, aber die sind in
der Öffentlichkeit wenig präsent.
Sie waren gerade in Bolivien und haben dort mit Politikern von Evo
Morales Movimiento al Socialismo (Mas) gesprochen. Was sind für sie
herausragende Unterschiede zwischen der Situation der Bewegungen
Boliviens und Argentiniens?
In Bolivien hat die soziale Bewegung um mit meiner Kollegin Alvara
García Linares zu sprechen eine übergeordnete institutionelle Form
gefunden, die die alten Parteien ersetzen wird. Für Argentinien ist das
nicht in Sicht. Weder die Piqueteros noch die Stadtteilversammlungen
konnten bislang ein derartiges organisatorisches Niveau erreichen.
Woran könnte das liegen?
Der Protest in Bolivien fusst auf einer ähnlichen Erfahrung. In Bolivien
hat der Neoliberalismus gewütet, aber gleichzeitig wurde ihm von unten
mit der Herausbildung eines neuen «sozialen Kapitals» im
emanzipatorischen Sinne geantwortet. In Argentinien fehlt diese
Vorstellung von Gemeinschaft. Die neoliberalen Reformen der neunziger
Jahre waren so brachial, dass derzeit kein Motor für einen sozialen
Kampf vorhanden ist. Die Bewegung der Piqueteros hat die Tür wieder
einen Spalt aufgestossen, aber das ist nicht genug.
Maristella Svampa
lebt in Buenos Aires und Paris und veröffentlichte zuletzt (zusammen mit
Sebastian Pereyra) «Entre la Ruta y el barrio. La experiencia de las
organizaciones piqueteras» (Editorial Biblos. Buenos Aires 2003).
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